Sternstunden der Evolutionsstrategie − ein halbes Jahrhundert Zickzack mit Darwin

Ein Pionier der Bionik: Professor Rechenberg auf Exkursion in der südmarokkanischen Wüste.

Aktuelles // 9. Dezember 2014

Sternstunden der Evolutionsstrategie − ein halbes Jahrhundert Zickzack mit Darwin

Für Bioniker war es ein Doppeljubiläum der besonderen Art: Prof. Dr. Ingo Rechenberg, einer der Bionik-Pioniere und BIOKON-Gründungsmitglied, beging am 20.11.2014 seinen 80. Geburtstag. Gleichzeitig war es der 50. Jahrestag der Vorstellung der Evolutionsstrategie, die von Professor Rechenberg für die Lösung ingenieurtechnischer Herausforderungen entwickelt wurde.  

Am 18. November 1964 titelte der SPIEGEL „Zickzack nach Darwin“. Genau 50 Jahre später referierte Prof. Rechenberg bei einem interdisziplinären Symposium an der Universität Jena, das an sein bahnbrechendes »Darwin-im-Windkanal-Experiment« erinnerte zu den „Sternstunden der Theorie der Evolutionsstrategie“.  

Fünfzig Jahre zurück: Gemeinsam mit seinen damaligen Kommilitonen Peter Bienert und Hans-Paul Schwefel führte der damalige Luftfahrtstudent Ingo Rechenberg an der Technischen Universität Berlin ein Schlüsselexperiment im Windkanal durch. Es ging um die Bestimmung der idealen Form von Flügeltragflächen mit dem geringsten Widerstand mithilfe des Evolutionsprinzips. Rechenberg stellte dieses Experiment dann mit Hilfe der Film-Zeitraffer-Technik auf einer Tagung in Berlin vor – ein wissenschafts- und technikhistorisch bedeutsames Ereignis.  

Hätten die Wissenschaftler die verschiedenen Einstellungen des Flügelprofils systematisch getestet, hätte es Jahre gedauert, die widerstandsärmste Flügelform zu finden. Doch durch die Anwendung von Selektion und Variation benötigten sie nur wenige Tage. Variation und Rekombination sind Konzepte die vor allem aus der Evolutionsbiologie bekannt sind. Bei der Evolutionsstrategie werden diese Prinzipien zur Optimierung technischer Systeme angewendet, um Produkte und Prozesse robust und effizient zu optimieren − auch bei solchen Problemen, bei denen andere Optimierungsverfahren versagen.  

Die Evolutionsstrategie  

Die Anwendungsbandbreite der Evolutionsstrategie reicht von der Optimierung von Prozessabläufen über die Anpassung von subjektiv zu beurteilende Produkteigenschaften und der Erstellung von Vorhersagemodellen von sozialem Verhalten oder der Entwicklung von Finanzmärkten bis hin zur Auslegung von Bauteilen und Großkonstruktionen.  

Die Evolutionsstrategie kann in unterschiedlichen Stadien des Projektverlaufs ohne größeren Aufwand eingesetzt werden, so z.B. in der Anfangsphase zur Ermittlung von Ausgangmodellen, während des Projektes zur Selektion und Identifikation von Prozessparametern und selbstverständlich für die „Hauptoptimierung“ und letztlich auch zur Optimierung des technischen Herstellungsverfahrens für das Ergebnis bzw. Produkt.  

Die Optimierung kann anhand von Computermodellen und Simulationen erfolgen, wie bei Schiffspropellern erfolgreich zur Minimierung des Treibstoffverbrauchs eingesetzt. Auch Optimierungsaufgaben mit verrauschten Zielfunktionen, die also durch externe Einflüsse gestört werden, wie bei Rohrkrümmern zur Reduktion des Druckverlustes, sind lösbar, oder zu optimierende Systeme mit korrelierten Parametern, also voneinander abhängigen Variablen, wie zum Beispiel bei der Modellidentifikation oder beim Regler-Design.  

Sind die Parameterkonstellationen zu komplex, um sie über Formeln abbilden zu können, ist es mit Hilfe der Evolutionsstrategie auch möglich, die Bewertung der einzelnen Entwicklungsschritte auf Grundlage von experimentell ermittelten Messergebnissen vorzunehmen. So wurden beispielsweise Strömungsprofile hinsichtlich der Widerstandsminimierung optimiert. Industrierelevant ist ferner die Optimierung mit subjektiver Bewertung, also die Bewertung durch den Menschen, wenn es zum Beispiel um Sinneswahrnehmung geht und eine Farbe, ein Geräusch oder ein Geschmack verglichen und optimiert werden soll. Ein Beispiel hierfür ist die Optimierung des Designs von Radfelgen nach mechanischen und ästhetischen Kriterien.  

Ingo Rechenberg  

Gemäß des Spruches „Einen Naturvorgang verstehen heißt, ihn in Mechanik zu übersetzen“ (Hermann von Helmholtz) hat Rechenberg schon von frühester Jugend an versucht, Naturphänome bei Saalflugmodellen einzusetzen. Später studierte er Maschinen- und Flugzeugbau. Motiviert durch die Vorlesungen von Johann-Gerhard Helmcke über Evolution, setzt er anfangs alleine und dann mit seiner Arbeitsgruppe evolutionäre Prinzipien zur Lösung technischer Probleme ein.  

Als einer der weltweiten Vorreiter der Bionik, wird Ingo Rechenberg 1972 an den Lehrstuhl „Bionik und Evolutionstechnik“ der TU Berlin berufen. Er ist somit einer der ersten in Deutschland, der Bionik als Wissenschaftsrichtung etabliert hat. Seine Beiträge reichen von der Evolutionsstrategie als ein universelles Optimierungswerkzeug über die Windkraftanlage BERWIAN bis hin zu Projekten zur photobiologischen Wasserstofferzeugung. Sein aktuelles Arbeitsgebiet ist die Umsetzung von biologischen Prinzipien, die er in der Wüste Sahara findet, wie z.B. verschleißarme Oberflächen nach dem Vorbild des Sandfisches, eine „Bionik-Pumpe“, die ohne Mechanik mit Hilfe der Sonnenenergie nach dem Vorbild von Pflanzen Flüssigkeiten transportiert oder die rollende Lokomotion nach dem Vorbild der mittlerweile nach ihm benannten Spinne Cebrennus rechenbergi.  

Bereits seit 1982 begibt sich Rechenberg jährlich mit seinem Expeditionsfahrzeug in die Wüste Erg Chebbi am Rand der Sahara in Südmarokko – seine Begeisterung für die Bionik und speziell das Studieren und Nutzen von Ergebnissen der biologischen Evolution treibt ihn an; eine Begeisterung, die er bis heute in seinen Vorlesungen an der TU Berlin auch an die Studierenden weitergibt.

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