Flickflack à la Bionik – Nachruf zum Tod von Ingo Rechenberg

Bild: BIOKON

Aktuelles // 15. Oktober 2021

Flickflack à la Bionik – Nachruf zum Tod von Ingo Rechenberg

BIOKON trauert um sein Ehrenmitglied Professor Dr. Ingo Rechenberg. Er starb am 25.09.2021 nach kurzer schwerer Krankheit in Berlin. Als einer der weltweiten Pioniere der Bionik hat Ingo Rechenberg maßgeblich dazu beigetragen, Bionik als Wissenschaftsrichtung zu etablieren und in Deutschland groß zu machen.

Schon von frühester Jugend an versuchte er, Naturphänome bei Flugmodellen einzusetzen. Schon damals folgte er dem sein ganzes akademisches Leben prägenden Motto, nach dem die ganze Welt ein riesiges Versuchslabor sei, von dem sich der Ingenieur inspirieren lassen könne. Seine Logik: In der Natur findet eine Evolution statt, ein Langzeitexperiment, das seit fast vier Milliarden Jahren läuft. Die Größe des „Labors Erde“ und Dauer des Experiments sollten ausgereicht haben, optimierte Lebensformen hervorzubringen. Der Ingenieur kann vielfach Denk- und Experimentierzeit sparen, wenn er solche evolutionär optimierten Lösungen analysiert und technisch umsetzt.

1955 begann Ingo Rechenberg an der TU-Berlin bei Professor Heinrich Hertel mit dem Studium des Flugzeugbaus. Er war als Praktikant bei den Focker-Flugzeugwerken in Amsterdam tätig und forschte als Stresemann-Stipendiat ein Jahr am Engineering Laboratory in Cambridge (England). Zurück in Berlin (zum Diplomabschluss fehlte noch das Studium Generale) hörte er eine Vorlesung von Professor Johann-Gerhard Helmcke über Evolution. Von der Euphorie seines Professors angesteckt begann Rechenberg 1963 mit Würfel, Zirkel und Lineal Darwins Modell der Evolution am Beispiel der Entwicklung eines regulären Sechsecks auf dem Papier nachzuvollziehen. Am 12. Juni 1964, in einem Teestunden-Vortrag bei Professor Rudolf Wille am Hermann-Föttinger-Institut der TU Berlin, wurde das Wort Evolutionsstrategie geprägt. Als Meilenstein gilt Rechenbergs Vortrag auf einer Tagung der am 16. September 1964 in der Berliner Kongresshalle. Hier führte er mit Hilfe der Film-Zeitraffer-Technik das mittlerweile berühmt gewordene „Darwin-im-Windkanal-Experiment“ vor, in dem eine zur Zickzackform gefaltete Gelenkplatte sich evolutiv zur ebenen Form geringsten Widerstands entwickelt.

Es folgten seine Promotion im Jahr 1970 und die Habilitation 1971. Im Jahr 1972 wurde Rechenberg dann auf den Lehrstuhl „Bionik und Evolutionstechnik“ der TU Berlin berufen, den er auch nach seiner Emeritierung bis kurz vor seinem Tod noch kommissarisch weiter leitete. Bereits 1973 erschien Rechenbergs erstes Buch „Evolutionsstrategie – Optimierung technischer Systeme nach Prinzipien der biologischen Evolution.

Die große Anwendungsbandbreite der Evolutionsstrategie reicht von der Optimierung von Prozessabläufen über die Anpassung von subjektiv zu beurteilende Produkteigenschaften und der Erstellung von Vorhersagemodellen von sozialem Verhalten oder der Entwicklung von Finanzmärkten bis hin zur Auslegung von Bauteilen und Großkonstruktionen:

Die Bionik begriff Ingo Rechenberg als Studium und Nutzung von Ergebnissen der biologischen Evolution und demzufolge die Evolutionsstrategie als Teilmenge der Bionik. Im Jahr 2001 gehörte er zu den sechs Gründungsmitgliedern der Forschungsgemeinschaft Bionik-Kompetenznetz BIOKON, die er als seine wissenschaftliche Heimat sah.

Seine wissenschaftlichen Beiträge reichen von der Evolutionsstrategie als universelles Optimierungswerkzeug über die Windkraftanlage BERWIAN bis hin zu Projekten zur photobiologischen Wasserstofferzeugung. Sein letztes Arbeitsgebiet in den 2000-er Jahren waren die Umsetzung von biologischen Prinzipien, die er in der Wüste Erg Chebbi am Rand der Sahara in Südmarokko fand, wie zum Beispiel verschleißarme Oberflächen nach dem Vorbild des Sandfisches, eine „Bionik-Pumpe“, die ohne Mechanik mit Hilfe der Sonnenenergie nach dem Vorbild von Pflanzen Flüssigkeiten transportiert oder die rollende Lokomotion nach dem Vorbild der mittlerweile nach ihm benannten Spinne Cebrennus rechenbergi. Bekannt wurde sie durch ihre für Spinnen einzigartige Möglichkeit der Fortbewegung, die an einen Flickflack erinnert. Rad schlagend und dadurch nahezu rollend kann sie sich viel schneller fortbewegen, als mit ihrer normalen Beinbewegung. Ingo Rechenberg nannte sie deshalb auch „Radlerspinne“. Seine jährlichen Expeditionen in die südmarokkanische Wüste, die er noch bis zuletzt unternahm, waren für ihn Inspiration und Jungbrunnen zugleich.

Professor Rechenberg hätte am 20. November 2021 das 87 Lebensjahr vollendet. Neugierig in die Natur geschaut hat er bis zum Ende. BIOKON wird ihm als einen seiner Mitbegründer und großen Bioniker ein würdigendes Andenken bewahren – R.I.P. Ingo Rechenberg.

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